Unfall oder Mord?
Forschende der Universität Stuttgart lieferten wesentliche Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Kriminalfalles
Die neue computergestützte biomechanische Simulationsmethode, die in dem Sachverständigengutachten zum Tragen kommt und einer der Hauptgründe für die Wiederaufnahme des Verfahrens war, hat ein Team von Wissenschaftler:innen um Prof. Syn Schmitt entwickelt. Der promovierte Physiker ist einer der Leiter des Instituts für Modellierung und Simulation Biomechanischer Systeme und forscht am Exzellenzcluster SimTech der Universität Stuttgart. Er beschäftigt sich mit autonomen, muskelgetriebenen Systemen. Mittels Simulationen bildet er etwa menschliche Bewegungsabläufe ab. Abhängig davon, wie schwer, wie groß oder wie alt die angenommene Modell-Person ist, werden unterschiedliche Simulationen der Bewegungen berechnet, es entsteht ein „Digitales Menschmodell“. Um zu überprüfen, ob die entsprechenden Berechnungen stimmen, setzt das Team die Daten in robotische Systeme ein und weist so nach, dass die berechneten und simulierten Bewegungen in der Realität stattfinden könnten.
Wie kam es zu der Verurteilung?
Es geht um folgenden Fall: Die 87-Jährige Lieselotte Kortüm wurde tot in ihrer mit Wasser gefüllten Badewanne gefunden, sie hatte zwei Hämatome am Hinterkopf. Einiges sprach damals für einen Unfall, wie das Alter der Frau und eine Vorerkrankung, bei der es oft zu Stürzen kommt. Doch die Richter:innen und der damalige rechtsmedizinische Gutachter schlossen aus, dass die Hämatome durch einen Sturz entstanden sein könnten, ebenso wenig wie die Lage, in der die Leiche gefunden wurde, nicht durch einen Sturz ohne Fremdeinwirkung erklärbar sei. Der Hausmeister Manfred Genditzki, der Kortüm und andere Bewohner:innen der Anlage bei Alltagsarbeiten unterstützte, war als letzter in der Wohnung gewesen. Unterschlagung als zunächst angenommenes Motiv musste später verworfen werden. Stattdessen wurde ein Streit angenommen. So kam es schließlich zur Verurteilung des Hausmeisters als Mörder. Genditzki war 13 Jahren lang inhaftiert. Die Tat hat er nie gestanden, sondern immer wieder seine Unschuld beteuert.
Biomechanische Simulation als rechtsmedizinisches Gutachten anerkannt
Nach vier Jahren Haftzeit übernahm die Rechtsanwältin Regina Rick die Verteidigung von Genditzki. Um die Wiederaufnahme des Falles zu erwirken, beauftragte sie unter anderem Prof. Syn Schmitt mit einem Gutachten. Schon bei der Revision im Jahr 2011 wurde Schmitt vom damaligen Verteidiger als Sachverständiger angefragt, damals stand er allerdings noch zu Beginn seiner Forschungen. Inzwischen ist die von den Stuttgarter Wissenschaftler:innen entwickelte Methode vom Oberlandesgericht München anerkannt, sie wird für diesen Fall zum ersten Mal in einem rechtsmedizinischen Gutachten eingesetzt.
Im August 2022 entschied das Oberlandesgericht München, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens begründet ist und eine neue Hauptverhandlung stattfinden muss. Der wegen Mordes verurteilte und seit 13 Jahren in Haft sitzende Genditzki wurde sofort in die Freiheit entlassen – eine Sensation! Begründet wurde die Anordnung der Wiederaufnahme hauptsächlich mit der veränderten Beweislage aufgrund des biomechanischen Gutachtens von Schmitt und des thermodynamischen Gutachtens von Prof. Niels Hansen, stellvertretender Leiter des Instituts für Technische Thermodynamik und Thermische Verfahrenstechnik der Universität Stuttgart, auf dessen Basis die Rechtsmedizinerin Prof. Gita Mall den Todeszeitpunkt eingrenzen konnte, sowie einer neuen Zeugenaussage.
Gutachten der beiden Forscher der Universität Stuttgart sind wichtige Grundlage für die Wiederaufnahme des Falls
Für die biomechanische Simulation entwarf das Team um Schmitt mithilfe der biologischen Daten der verstorbenen Frau, wie Größe, Gewicht, spezifische Gewichtsverteilung bei älteren Personen und Knochenlängen, ein personenspezifisches Modell. Schmitt und sein Team gingen dann von einem Anfangszustand aus: das personenspezifische Modell von Frau Kortüm vor der mit Wasser gefüllten Badewanne. Es ging darum, den Vorfall zu rekonstruieren: Kann die Simulation von der angenommenen Anfangssituation ausgehend den vorgefundenen Endzustand darstellen? Der Endzustand – damit ist die Leiche gemeint, wie sie in der Badewanne lag, die zwei Hämatome, die Schuhe und der Stock der Toten vor der Badewanne. „Die Begleitumstände des Falls sind für unsere Arbeit im Prinzip nicht wichtig. Für uns geht es einzig darum, ob der Endzustand auf natürliche Weise, das heißt ohne Fremdeinwirkung von der angenommenen Anfangsposition erreicht werden kann. Wir wollen die Wahrheit finden“, betont Schmitt. „Unsere Methode ist in der Lage, objektiv und transparent zu untersuchen, welche Bewegungen abhängig von den Gesetzen der Physik möglich sind.“ Genau das ist wichtig bei der Klärung des Falls.
Die Simulation unterstützt eindeutig die Auffassung, dass es sich um einen Unfall gehandelt haben kann
Die Wissenschaftler:innen führten zahlreiche Simulationen des Vorgangs durch. „Simulation ist auch eine Frage der Wahrscheinlichkeit“, erklärt Schmitt. Alle Simulationen führen zum gleichen Ergebnis: Sie zeigen, dass ein Sturz ohne Fremdeinwirkung wahrscheinlich ist. Die Simulation unterstützt damit eindeutig die Auffassung, dass es sich bei dem Fall um einen Unfall gehandelt haben kann.
Thermodynamisches Gutachten erlaubt Rückschlüsse auf Todeszeitpunkt
Dem Stuttgarter Wissenschaftler Prof. Niels Hansen gelang die Eingrenzung der ungefähren Wassertemperatur zum Zeitpunkt der Auffindung des Leichnams. Dies erlaubt Rückschlüsse darauf, wie lange die Leiche im Wasser lag und damit auf den Todeszeitpunkt. Das auf den Untersuchungen von Hansen aufbauende Gutachten der Rechtsmedizinerin Gita Mall legt einen Todeszeitpunkt nahe, der erheblich außerhalb des vom Tatgericht angenommenen Zeitfensters liegt.
Einer der berühmtesten Kriminalfälle der letzten 15 Jahre wird neu aufgerollt und Forschende des Exzellenzclusters SimTech der Universität Stuttgart lieferten die wesentlichen Voraussetzungen dafür!
Zu Syn Schmitt
Was macht der Simulationswissenschaftler, wenn er nicht als Gutachter in einem Mordprozess tätig ist? Er arbeitet am Institut für Modellierung und Simulation Biomechanischer Systeme bzw. am Exzellenzcluster SimTech der Universität Stuttgart mit einem rund 20-köpfigen interdisziplinärem Team aus den Bereichen Simulationswissenschaften, Physik, Maschinenbau und Medizintechnik. Das Team beschäftigt sich mit computergestützter Biophysik und Biorobotik. „Wir versuchen den Bewegungsprozess von Menschen oder Tieren zu verstehen. Unsere Sprache ist die Mathematik, mit ihr beschreiben wir die Modelle“, erklärt Schmitt. Die Wissenschaftler:innen arbeiten auch eng mit dem Hertie Institut für klinische Hirnforschung am Universitätsklinikum Tübingen und dem Wirbelsäulenzentrum des Diakonie-Klinikums Stuttgart zusammen. Die Erkenntnisse der Forschungen könnten zukünftig für die Entwicklung von Prothesen oder Orthesen und für die Robotik eingesetzt werden. Der Simulationswissenschaftler ist auch an Forschungen zur Künstlichen Intelligenz und modernen Robotik am Cyber Valley beteiligt.
Verbunden mit seiner Rolle als Gutachter in einem Mordprozess sind viele weitere ungewohnte Tätigkeiten. Er hatte Kontakte zum Justizministerium, vor allem im Zusammenhang mit der Anerkennung der Simulationsmethode als juristischer Nachweis. Darüber hinaus steht Syn Schmitt im engen Austausch mit dem Hamburger Rechtsmediziner Prof. Klaus Püschel zur Anwendung seiner Methode in weiteren Rechtsfällen. Auch Medienanfragen muss er sich stellen.
Was denkt er selbst über den Fall? „Ich trenne die emotionale Seite von der fachlichen Aufgabe. Das ist ganz wichtig für mich. Die Beschäftigung mit diesem Fall seit rund fünf Jahren hat unsere Forschungen weitergebracht, wir haben noch näher hingeschaut und sie hat gezeigt, dass Rechtmediziner:innen und Simulationswissenschaftler:innen gut zusammenarbeiten können.“ Syn Schmitt würde sich freuen, wenn die Methode auch in der Ausbildung der Rechtsmedizin oder in Untersuchungslaboren Eingang findet: „Sie kann klassische Rechtsmedizin unterstützen, gerade bei der Rekonstruktion von Stürzen.“
Zu Niels Hansen
Prof. Niels Hansen ist stellvertretender Leiter des Instituts für Technische Thermodynamik und Thermische Verfahrenstechnik (ITT) an der Universität Stuttgart. Das ITT vertritt die Fachgebiete Thermodynamik und Thermische Verfahrenstechnik in Forschung und Lehre. Es hat eine Brückenfunktion zwischen Ingenieurwissenschaften und angewandten Naturwissenschaften. Die Thermodynamik ist eine natur- und ingenieurwissenschaftliche Grundlagendisziplin. Sie befasst sich mit den verschiedenen Erscheinungsformen der Energie und deren Umwandlung ineinander.
Hansen forscht zu molekularen Modellen, mit deren Hilfe er Vorhersagen von makroskopischen thermodynamischen Eigenschaften durchführt. Neben der quantitativen Vorhersage erlauben die Methoden der molekularen Simulationen auch eine molekulare Interpretation von physikalischen Vorgängen, die messtechnisch oft nicht sichtbar gemacht werden können. Das ITT ist an mehreren interdisziplinären Forschungsverbünden beteiligt, wie den Sonderforschungsbereichen „Grenzflächengetriebene Mehrfeldprozesse in porösen Medien - Strömung, Transport und Deformation“ und „Molekulare heterogene Katalyse in definierten, dirigierenden Geometrien“ sowie dem Exzellenzcluster SimTech.