Künstliche Intelligenz unterstützt medizinische Prognosen
Am Beispiel von Covid-19 sagt eine Methode maschinellen Lernens das individuelle Sterblichkeitsrisiko von Patienten voraus
Tübingen, den 16.02.2021 - In Krankenhäusern erheben Ärztinnen und Ärzte eine Fülle von medizinischen Daten, doch ob eine Krankheit bei einem Patienten zum Tod führt, können auch Fachleute daraus in vielen Fällen erst ablesen, wenn es für eine Rettung zu spät ist. Bei Covid-19 etwa sind hohes Alter und Vorerkrankungen relevante Risikofaktoren für eine ernsthafte Erkrankung. Es sind aber längst nicht die einzigen. Auch die Sauerstoffsättigung, die Zahl der weißen Blutkörperchen oder der Kreatinin-Wert gehören dazu. „Aber selbst erfahrene Mediziner können in diesen Parametern nicht früh genug eindeutige Muster für einen tödlichen Verlauf erkennen, um eventuell noch die Therapie anzupassen“, sagt Stefan Bauer, Leiter einer Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Tübingen.
Genau da kann künstliche Intelligenz, genauer gesagt maschinelles Lernen hilfreich sein. Diese Methode lernt anhand von vielen Beispielen, Muster in Daten zu erkennen. Deshalb hat ein internationales Team um Stefan Bauer vom Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme und Patrick Schwab, ein ehemaliger Mitarbeiter von Roche, einen Algorithmus entwickelt und mit Daten zu Krankheitsverläufen von Tausenden Covid-19-Patientinnen und -Patienten darauf trainiert, die individuelle Sterblichkeit für die Erkrankung vorherzusagen. Den Algorithmus nennen sie Covews, kurz für Covid-19 Early Warning System. Neben Wissenschaftlern des Tübinger Max-Planck-Instituts und von Roche, waren auch Forschende der Harvard-Universität und der Harvard Medical School sowie des Massachusetts Institute of Technology, der Universitätsklinik Tübingen und des Kantonsspitals Winterthur an der Arbeit beteiligt. Ihre Publikation „Real-time prediction of COVID-19 related mortality using electronic health records” erschien heute in Nature Communications.
Vorhersagen mit 95 prozentiger Sensitivität und knapp 70 prozentiger Spezifität
Covews liest aus den medizinischen Daten bis zu acht Tage im Vorhinein, wenn ein Patient zu sterben droht, und zwar mit einer Sensitivität von mehr als 95 Prozent. Das heißt, der Algorithmus erkennt bei 95 von 100 Menschen, dass sie sterben werden, wenn nicht Maßnahmen getroffen werden, um das zu verhindern. Gleichzeitig arbeitet Covews bei einer Vorhersage acht Tage im Voraus mit einer Spezifität von knapp 70 Prozent. Das bedeutet, etwa 70 von 100 Menschen, bei denen ein tödlicher Verlauf prognostiziert wird, sterben auch tatsächlich. In rund 30 Fällen gibt der Algorithmus also falschen Alarm. Der Algorithmus lässt sich auch darauf trainieren weniger sensitive, aber spezifischere Prognosen zu erstellen. „Aber es ist wichtiger, möglichst alle Menschen mit hohem Sterblichkeitsrisiko zu erfassen, als bei einigen fälschlicherweise ein hohes Risiko zu prognostizieren“, sagt Stefan Bauer. Möglicherweise werden dann bei mehr Menschen als nötig besondere Therapiemaßnahmen ergriffen, um einen vermeintlichen Tod abzuwenden.
Für die Entwicklung, vor allem das Training von Covews nutzten die Forschenden 33.000 anonymisierte Datensätze aus einer Kohorte namens Optum, die Patientinnen und Patienten in verschiedenen Krankenhäusern der USA erfasst. Sie fütterten den Algorithmus also mit Information darüber, wie sich routinemäßig erhobene Gesundheitsparameter einer Patientin oder eines Patienten im Krankheitsverlauf entwickelten und ob die Person an Covid-19 starben oder nicht. Auf diese Weise lernte Covews, in den Datensätzen Muster zu erkennen, die auf ein hohes Sterblichkeitsrisiko hinweisen. Wie treffsicher Covews dieses Risiko einschätzt, testete das internationale Team anschließend an etwa 14.000 weiteren Datensätzen aus der Optum-Kohorte. „Unser Algorithmus prognostiziert das Sterblichkeitsrisiko aber nicht nur mit Datensätzen aus dieser Kohorte mit hoher Sicherheit, sondern auch mit Daten aus anderen Krankenhäusern, die nicht genau der gleichen Verteilung folgen“, sagt Stefan Bauer. Das zeigten die Forschenden, indem sie Covews an Daten des globalen Gesundheitsnetzwerks TriNetX erprobten, das etwa 5.000 US-amerikanische, australische, indische und malayische Patientinnen und Patienten mit einem positiven Coronatest enthält. Auch bei diesen Testfällen aus Krankenhäusern in unterschiedlichen Weltregionen sagte Covews das Sterblichkeitsrisiko sehr sensitiv und spezifisch voraus.
Entscheidungen über Therapien müssen immer Ärzte treffen
Obwohl Covews zuverlässige Vorhersagen trifft, dürfte es bis zu seinem praktischen Einsatz noch eine Weile dauern. „Bis solche neuen Techniken im Klinikalltag angewendet werden, vergehen oftmals mehrere Jahre“, sagt Stefan Bauer. Das liegt unter anderem daran, dass Daten vielen Krankenhäusern nicht strukturiert vorliegen, was die Entwicklung einer geeigneten Software auf Basis des Algorithmus besonders herausfordernd macht. Indem die Forschenden Covews frei zugänglich ins Netz stellen, schaffen sie jedenfalls die Voraussetzungen, den Algorithmus zügig in die Praxis zu bringen. Und Anwendung könnte er nicht nur bei Covid-19-Patienten finden. Mit dem entsprechenden Training könnte er auch das Sterblichkeitsrisiko für andere Erkrankungen vorhersagen.
Wie die meisten Vorhersagen mit Methoden des maschinellen Lernens werden die Prognosen von Covews nicht aus Kausalzusammenhängen, sondern aus Korrelationen abgeleitet. Bei Korrelationen kann es sich um einen rein statistischen, also nicht ursächlichen Zusammenhang handeln. Sein Team weist zudem auf eine Einschränkung der Covews-Berechnungen hin: Möglicherweise sagt der Algorithmus nicht die Sterblichkeit, sondern den Abbruch der Behandlung voraus. Dann würden die Prognosen nicht nur auf medizinischen Fakten beruhen. „Bei der Entscheidung, eine Therapie einzustellen, spielen nicht nur medizinische Überlegungen eine Rolle“, sagt Stefan Bauer. Auch religiöse, kulturelle oder persönliche Haltungen können Menschen dazu bringen, sich nicht weiter behandeln zu lassen. So können Menschen generell eine künstliche Beatmung ablehnen oder aus Furcht vor den Langzeitfolgen einer Erkrankung die Rettung ihres Lebens ablehnen. Und oft genug sind es Familienangehörige oder Freunde, die bei solchen Entscheidungen mitsprechen. „Über Therapiemaßnahmen müssen daher immer Ärztinnen oder Ärzte entscheiden“, sagt Stefan Bauer. „Unser Algorithmus kann jedoch Erkenntnisse liefern, die Menschen aus den Daten nicht ableiten können, und die bei medizinischen Entscheidungen helfen können.“