„Die Vielfalt an Perspektiven ist unglaublich wertvoll“
Interview mit Christina Elmer, Cyber Valley Journalist in Residence
Frau Elmer, Sie sind nun seit mehr als sechs Wochen Cyber Valley Journalist in Residence (JIR). Hat es bereits Begegnungen gegeben, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?
„Solche Momente gibt es immer wieder! Als Journalist in Residence habe ich mit vielen Menschen sprechen können, die alle aus unterschiedlichen Richtungen auf das Thema lernende Systeme schauen. Darunter waren Forschende aus diversen Bereichen, Kolleg:innen aus dem Journalismus, aber auch Anwender:innen. Diese Vielfalt an Perspektiven ist unglaublich wertvoll. Und ich bin überzeugt: Nur auf diese Weise sind neue Ideen möglich, wie wir als Gesellschaft besser mit maschineller Intelligenz umgehen können.“
Bevor wir tiefer ins Thema einsteigen – wie sieht Ihr Alltag als JIR aus?
„Jeder Tag ist anders. Derzeit bereite ich eine Onlinebefragung vor, um noch mehr über die Nutzerperspektive zu erfahren. Dann planen wir eine Veranstaltung für den Sommer, bei der es ebenfalls darum geht, den Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft in einem bestimmten Anwendungsfeld für maschinelle Intelligenz zu fördern. Und an den meisten Tagen lerne ich noch ein, zwei neue Menschen aus dem Ökosystem Cyber Valley kennen. Das sind für mich immer ganz spannende Begegnungen, fachlich wie menschlich.“
Sie beschäftigen sich während Ihres Aufenthalts damit, wie Menschen intelligente Systeme begreifen können. Worin sehen Sie die Aufgabe von Journalist:innen – reicht es, über die wissenschaftlichen Durchbrüche zu berichten?
„Natürlich ist es wichtig, welche Ergebnisse die Forschenden in diesem Bereich gerade vollbracht und publiziert haben. Damit können wir ja auch erahnen, wohin die Reise in den nächsten Jahren gehen könnte.
Aus meiner Sicht sollten wir aber auch noch stärker auf den Alltag eingehen und diskutieren, wie intelligente Systeme schon heute unsere Gesellschaft prägen, welche Technologie dahintersteckt und wo wir uns eine stärkere Regulierung wünschen. Letztlich geht es auch darum, Menschen zu ermöglichen, in ihrem Umgang mit diesen Sytemen kompetente Entscheidungen zu treffen. Zudem wird der Journalismus ja auch als Diskursraum der Gesellschaft verstanden. Ich denke, hier sollten wir maschinelle Intelligenz noch stärker zum Thema machen, um der dynamischen Entwicklung und den damit verbundenen Möglichkeiten auch gerecht werden zu können.“
Dazu muss man ja grundsätzlich begreifen, was maschinelle Intelligenz ist. Sind Sie schon zu einem Ergebnis gekommen: Was brauchen Menschen denn, um intelligente Systeme zu verstehen?
„Da möchte ich mich ungern festlegen, da ich noch nicht genug über die Perspektive der Anwender:innen weiß. Aber mein Eindruck ist, dass es nicht allein darum geht, möglichst viel über die technologischen Details zu erfahren, sondern auch weitere Faktoren eine wichtige Rolle spielen: Warum wird an dieser Stelle überhaupt ein lernendes System eingesetzt? Welche Ziele verfolgt es, auf welcher Grundlage hat es gelernt? Und was kann ich als Anwender:in tun, wenn ich mit dem Ergebnis nicht einverstanden bin?
Solche Fragen dienen ja nicht nur der Erklärbarkeit, sondern auch einem umfassenderen Verständnis, das wir in diesem Bereich brauchen. Hier bin ich sehr gespannt, welche Fragen aus Nutzersicht wirklich als relevant empfunden werden. Und dann wird es darum gehen, für die Antworten gute Formate der Vermittlung zu finden.“
Ist das Wissen über KI mittlerweile in der Breite der Gesellschaft angekommen?
„Definitiv nicht. Wie wir lernende Systeme wahrnehmen, ist noch immer viel zu sehr von den Extremen geprägt, von Utopien oder Dystopien. Dabei passieren die wirklich relevanten Fragen und Entwicklungen im weiten Feld dazwischen. Es kommt zum Beispiel häufig darauf an, zu welchem Zweck ein intelligentes System ganz konkret genutzt wird – erst dann können wir sinnvoll bewerten, ob sich der Entwicklungsaufwand lohnt und ob wir es einschränken wollen.“
Können Sie das näher erklären?
„Ein Beispiel: KI-gestützte Spracherkennung kann verwendet werden, um blinde Menschen im Alltag zu unterstützen, ebenso ist damit aber auch eine Überwachung all unserer Gespräche möglich. Man muss also ganz konkret auf den Kontext schauen und sich zudem bewusst machen, welche Werte uns als Gesellschaft wichtig sind. Und das Beispiel zeigt auch: Wir benötigen nicht nur neue Kompetenzen im Umgang mit lernenden Systemen, sondern es wäre auch wünschenswert, wenn sich diese Systeme besser als heute üblich verständlich machen würden.“
Das alles setzt eine hohe Technikkompetenz bei Bürger:innen und Journalist:innen voraus. Sehen Sie auch die Wissenschaft stärker in der Pflicht, ihre Erkenntnisse niederschwellig zu vermitteln?
„In der angewandten Wissenschaft wäre das sicherlich hilfreich, vor allem denke ich da aber auch an die Unternehmen und Institutionen, die lernende Systeme einsetzen. Die Grundlagenforschung schaue ich mir persönlich auch gern in der Tiefe an, aber für Menschen ohne ein derartiges Spezialinteresse sind andere, lebensnahe Aspekte vermutlich wichtiger. Etwa neuartige Kompetenzen und Wissen darüber, wie Technologie unseren Alltag prägt und wie wir mit den Anwendungen konkret umgehen können.“
KI ist nicht nur ein Berichtsthema, sondern auch ein Werkzeug für den Journalismus. Wie kann KI Ihnen als Journalistin ganz konkret im Alltag helfen?
„Dafür gibt es viele Möglichkeiten – überall dort, wo wir es mit großen Datenmengen zu tun haben, mit wiederkehrenden Aufgaben oder auch personalisierten Empfehlungen. Zum Beispiel nutzen wir im Journalismus schon länger KI-Werkzeuge, um Audioaufnahmen zu verschriftlichen. Früher musste man das Transkript nach einem Interview noch stundenlang selbst schreiben, heute lässt sich das automatisieren – eine große Erleichterung!
Wir nutzen maschinelle Intelligenz aber auch in der Recherche, wenn wir große Archive durchsuchen oder umfangreiche Datenquellen analysieren müssen. Und in der Redaktion hilft uns eine Software dabei, die Kommentare unserer Leser:innen für die Moderation vorzusortieren. So behalten wir einen Überblick und erkennen schneller, wo wir genau hinschauen müssen.
Zusammengefasst kann man sagen: Maschinelle Intelligenz unterstützt uns schon an vielen Stellen im Hintergrund, aber ich denke nicht, dass sie Journalist:innen jemals ersetzen können. Dafür ist der Beruf einfach zu kreativ und darauf angewiesen, neue Situationen bewerten zu können, neue inhaltliche Verbindungen zu knüpfen und mit viel Empathie im richtigen Moment die richtige Frage zu stellen.“
Als Journalistin sind Sie bestrebt, den Dingen auf den Grund zu gehen. Wozu braucht es da noch das JIR-Programm, was ist der Vorteil?
„Es hilft sehr, sich dafür wirklich Zeit nehmen zu können und in dieser Zeit auch keine konkrete Recherche verfolgen zu müssen. Erst dadurch sind viele Gespräche möglich geworden, die zunächst ganz ergebnisoffen angelegt waren, dann aber wertvolle Anregungen für das Projekt gegeben haben. Für solche ‚Serendipity-Momente‘ braucht es viel Raum, den man in einer Recherche oder in der tagesaktuell geprägten Arbeit in der Redaktion nur selten zur Verfügung hat.“
Sie sind allerdings auch davon abhängig von den Möglichkeiten, die Cyber Valley während Ihres Aufenthalts bietet. Steht das für Sie in Konflikt mit Ihrer journalistischen Unabhängigkeit?
„Nicht, solange das alles im Rahmen bleibt. Ich habe durch das Programm die Möglichkeit, vor Ort in Tübingen zu sein und mit vielen Menschen zu sprechen – um mehr geht es dabei ja gar nicht. In dieser Zeit arbeite ich nicht als Journalistin und verpflichte mich auch nicht dazu, die Ergebnisse meines Projekts journalistisch zu verarbeiten. Ich kann da sehr frei entscheiden und erlebe es in meinen Gesprächen häufig, dass es mehr als erwünscht ist, die Themen auch kritisch zu hinterfragen und zu diskutieren.“
Wem empfehlen Sie die Bewerbung auf die nächste JIR-Runde?
„Allen Kolleginnen und Kollegen, die bereit sind, einmal ganz tief in die Forschung zu intelligenten Systemen einzutauchen – und zugleich in einer Stadt zu sein, die solche Entwicklungen aufmerksam begleitet. Diese Mischung finde ich wahnsinnig spannend. Außerdem hilft es, einen nicht zu klaren Plan zu haben, was man in der Zeit des Programms erreichen möchte. Sonst läuft man an den besonders interessanten Umwegen womöglich noch vorbei.“
Wie geht es bei Ihnen in den kommenden Wochen weiter?
„Mit der Perspektive der Anwender:innen. Dazu werde ich längere Interviews mit Menschen aus der Region durchführen, aber auch eine groß angelegte Befragung starten. Danach ist hoffentlich etwas klarer, welche Fragen aus Nutzersicht wirklich relevant sind. Diese Fragen werde ich dann mit Forschenden und Studierenden besprechen, um mehr darüber zu erfahren, wie man darauf aus fachlicher Sicht reagieren kann. Im besten Fall entstehen so erste Prototypen – also Ideen, wie wir lernende Systeme verständlicher gestalten können.“
Gibt es ein Buch zum Thema KI, das Sie besonders empfehlen können?
„Wer sich zu diesem Thema einmal grundlegend ‚aufschlauen‘ möchte, dem empfehle ich das Buch ‚Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl‘ von Katharina Zweig. Man lernt darin wahnsinnig viel, gleichermaßen über Möglichkeiten und Risiken intelligenter Systeme. Und es ist ein humorvolles Buch mit großartigen Illustrationen, das es einem sehr leicht macht, in dieses doch oft eher abstrakte Thema einzusteigen.“