Simulationswissenschaft an der Spitze
Interview mit den SimTech Clustersprechern
Ein Text der Universität Stuttgart, Interview: Lydia Lehmann. Zum Originaltext
Es war Förder-Halbzeit für den Exzellenzcluster „Daten-integrierte Simulationswissenschaft“ (SimTech) an der Universität Stuttgart. Was haben Sie bisher erreicht?
Prof. Wolfgang Nowak: In der klassischen Simulationstechnik werden physikalische Prinzipien auf Rechnern numerisch simuliert. Dazu kommen in letzter Zeit riesige Datenmengen aus Experimenten, die solche Simulationen verbessern können. Daher hatten wir uns das Ziel gesetzt, einen Paradigmenwechsel von klassischer Simulationstechnik in Richtung „Daten-integrierte Simulationswissenschaft“ voranzutreiben…
Prof. Thomas Ertl: …ja, wir haben die Datenwissenschaften und das maschinelle Lernen dazugeholt und wollten Simulation Science und Data Science zusammenbringen zu einer weiterentwickelten Simulationsdisziplin.
Nowak: Das war wirklich ein großer Umbruch. Und inzwischen wissen wir: Der Paradigmenwechsel ist in den 80 Projekten, die wir in der ersten Projekthalbzeit erfolgreich beendet haben, voll durchgeschlagen. Auch persönlich hören wir immer wieder von unseren Forschenden: „Ich bin in meinem Fach an der Spitze derjenigen, die daten-integrierte Simulationswissenschaft betreiben.“ Es hat also fürs Kollektiv und für die Einzelnen funktioniert.
Ertl: Die Forschungserfolge sind in der Heterogenität und Breite von SimTech in allen sieben Projektnetzwerken zu sehen. Es ist fast müßig, einzelne herauszupicken. Insgesamt ist die Simulationswissenschaft über die vergangenen 15 Jahre aus isolierten Ansätzen heraus zu einer eigenständigen Disziplin zusammengewachsen und gereift.
Wir haben einen eigenen SimTech-Bachelor- und Master-Studiengang, eine eigene Graduiertenschule, in der mehr als 200 Personen in Simulationswissenschaft promoviert haben, und können zehn Habilitationen in Simulationswissenschaft vorweisen. Es gibt ein Förderformat für Post-Doc-Projekte, und wir haben sieben Nachwuchsgruppen eingerichtet: Vier Männer und drei Frauen, überwiegend von außerhalb, sind zu uns gekommen und leiten nun sehr erfolgreich ihre Forschungsgruppen. Ebenso wurden sechs neue Professuren ausgeschrieben und inzwischen alle exzellent besetzt. SimTech ist ein international etabliertes Markenzeichen der Universität Stuttgart, ein Alleinstellungsmerkmal.
Direktor des Stuttgarter Zentrums für Simulationswissenschaft und Co-Sprecher des Exzellenzclusters SimTech Prof. Ertl (li.), und Co-Sprecher Prof. Nowak. Foto: Jakob Dürrwächter, Daniel Kempf und Claus-Dieter Munz, Universität Stuttgart
Was ist Ihr persönliches SimTech-Highlight?
Ertl: Was mich als Altgedienten auch nach fast 20 Jahren fasziniert, ist das Level an Zusammenarbeit und an persönlichem Austausch – und dass wir auf dieser Basis so erfolgreich sind. Es ist nicht selbstverständlich, dass sich in einem Cluster dieser Größenordnung über die Jahre eine so hervorragende Kollaborationskultur entwickelt hat, die Platz lässt für viele Eigenarten und die auf Augenhöhe mit allen stattfindet. Das sage ich jetzt als Sprecher, aber es wird wirklich über alle Statusgruppen gelebt.
Nowak: Ja. Wie war das? „This degree of team spirit cannot be faked“, hat ein Gutachter bei unserer letzten Begutachtung gesagt.
Ertl: (lacht.) Ja, das war ein Satz von jemand Externem, der das schön zusammenfasst.
Prof. Steffen Staab: Was mich immer beeindruckt, sind unsere jährlichen SimTech-Statusmeetings in Bad Boll. Da sind an die 200 Personen da, die in SimTech aktiv sind. Und da spürt man physisch in den Gängen, was das für ein großes Unternehmen ist und wie begeistert die Leute dabei sind.
Nowak: Die Interdisziplinarität auf Augenhöhe mit eigenem SimTech-Vokabular: Ich als Umweltingenieur und poröse-Medien-Forscher laufe ins Mathematik-Gebäude rein, und nach ausreichend vielen Diskussionen mit Mathematikern schockt mich das nicht. Danach laufe ich mit neuen Fragen ins Informatik-Gebäude rein und stelle das Gleiche fest. (Lacht.) Und dann sitze ich im Direktorium mit einem theoretischen Chemiker, einer Systembiologin und anderen, und die Diskussion funktioniert auch hier auf diversen fachlichen Ebenen. Das finde ich immens.
SimTech lebt also den „Stuttgarter Weg“ des interdisziplinären Forschens. Und warum ist Ihre Simulationsforschung wichtig für die Gesellschaft, für die Zukunft?
Ertl: Simulation wird von Menschen betrieben und findet nicht im luftleeren Raum statt. Wir möchten –Stichwort „Pervasive Simulation und Visualisierung“ – Simulation und ihre Daten für verschiedene Anwendungskontexte verfügbar machen: nicht nur am Supercomputer und am Schreibtisch im Labor, sondern dadurch, dass eine Geologin am Tablet direkt in der Landschaft mit eingebauter Sensorik Aufnahmen macht, somit Daten erhebt und diese direkt in eine Simulation einspeisen kann, die dann remote auf einem Supercomputer läuft und die Ergebnisse zurückspielt. Dabei geht es um Fragen zu Schnittstellen zwischen Supercomputer und mobilem Gerät oder zu kompakteren Darstellungen fürs Tablet.
Nowak: Ein anderes Beispiel ist das Digitale Menschmodell, bei dem Forschende von uns auf eine personalisierte Vorhersage je Patient abzielen. Ein Patient kommt mit Bandscheibenschaden in die Klinik, eine Prothese soll implantiert werden. Wir müssen schnell durchrechnen, welche Nervenreize, Muskeln und Kraftauswirkung durch Sehnen in genau diesem Patienten auf Knochen und Bandscheibe wirken. Dank Simulation kann man dann vorhersagen, welches Implantat das Beste wäre.
Ist das nur weit entfernte Zukunftsmusik oder steht man kurz davor, solche personalisierten Bandscheiben-Implantate einzusetzen?
Nowak: Wir in SimTech sind Grundlagenforscher, von uns programmierte Systeme werden nicht direkt in Krankenhäusern eingesetzt. Dazwischen liegt noch ein weiterer Schritt des Technologietransfers. Aber wir können schon jetzt anhand von realen CT-Daten darstellen, dass man das wirklich durchrechnen kann. Und wir können mit Augmented- oder Virtual-Reality-Brillen visualisieren, welche Kraftzustände bei Bewegung an welcher Stelle des Muskels wie wirken.
Staab: Für den Transfer gibt es einige Anwendungsprojekte, die nicht vom Exzellenzcluster gefördert werden, die aber auf den methodischen Innovationen von SimTech aufbauen. Gerade startet etwa ein Projekt mit der Uniklinik Jena, in dem es darum geht, Prozesse in der Leber zu simulieren und gleichzeitig maschinelles Lernen zu verwenden, um damit das Tumorboard zu unterstützen, in dem sich Ärzte verschiedener Spezialisierungen zur Diagnose und Behandlung von Lebertumoren beraten. Durch solche Transferaktivitäten nutzt übrigens auch die Industrie bereits unsere methodischen Erkenntnisse aus SimTech.
Was wird sich in der zweiten Förder-Halbzeit in SimTech verändern? Welche Schwerpunkte möchten Sie setzen?
Ertl: Im Oktober werde ich in den Ruhestand gehen. Den SimTech-Generationenwechsel haben wir vergangenes Jahr eingeläutet: Wolfgang Nowak und Steffen Staab sind seitdem die zwei Co-Sprecher des Clusters, mein Nachfolger-Duo. Im Stuttgarter Zentrum für Simulationswissenschaft soll Holger Steeb die Funktion des Direktors übernehmen. Mit diesen drei Personen ist ein tolles Team aufgestellt, das den nächsten Exzellenzantrag für SimTech vorbereiten und hoffentlich zum Erfolg führen wird.
Staab: Wir zielen auf die Kombination aus Evolution und Revolution. Daten-integrierte Simulationswissenschaft ist zwar ein neues Paradigma, aber natürlich werden wir darüber hinaus weiterdenken. Inwiefern wird sich Simulationswissenschaft grundlegend verändern? Das ist eine Herausforderung, da es nur eine Simulationswissenschaft, doch viele Heimatdisziplinen mit unterschiedlichen Sprechweisen gibt. Ich glaube, wenn wir hier erfolgreich sind, können wir ganz viel bewegen, weil wir in verschiedene Disziplinen hineinwirken.
Nowak: Die Chance ist, schon jetzt mit gewissen Themen den SimTech-Schwerpunkt umzulenken für eine mögliche Folgeförderung als Exzellenzcluster. Ein Thema ist unser neues Projektnetzwerk „Quantencomputing für Simulation“, wo wir eng mit theoretischer Chemie sowie theoretischer und experimenteller Physik zusammenarbeiten, um Quantencomputer für unsere Simulationsjobs fit zu machen und die Algorithmen entsprechend einzustellen.
Staab: Das zweite Thema, auf das wir setzen möchten, ist „Knowledge-Infused Simulation Science“, also Wissensintegration. Wir wollen Simulation möglichst intelligent machen, etwa dass sie aus Erfahrung lernt oder indem wir Expertenwissen in unsere Simulation hineinbringen – und damit Rechenpower und Zeit sparen.
Nowak: Und wir bilanzieren, was die wissenschaftsunterstützenden Strukturen erreicht haben – also etwa in Nachwuchsförderung, Internationalisierung, Diversity, Studiengang, Wissenschaftsdatenmanagement, Öffentlichkeitsarbeit und Reflexion der eigenen Arbeit. Wir möchten Erfolgreiches weiterführen und Bisheriges noch toppen.
Über SimTech
Seit 2019 gibt es im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder den Cluster EXC 2075 Daten-integrierte Simulationswissenschaft, der sich derzeit in der erster Förderphase befindet und sich nun für eine zweite Förderphase bewerben darf. Beide Cluster sind unter dem Akronym SimTech international etabliert. Neben den Clustern gibt es das Stuttgarter Zentrum für Simulationswissenschaft, eine fakultätsähnliche Einrichtung an der Universität Stuttgart, die die Nachhaltigkeit der Simulationsforschung unabhängig von den Exzellenzclustern sicherstellt.
SimTech ist keiner Fakultät zugeordnet, sondern sieben Fakultäten sind an SimTech beteiligt. Es handelt sich um einen eigenständigen Profilbereich der Universität Stuttgart. Fachlich ist SimTech eine Mischung aus Ingenieurwissenschaften, angrenzenden Naturwissenschaften bis zur theoretischen Chemie sowie Mathematik und Informatik. Den Schwerpunkt in den Anwendungen, die SimTech bedient, liegt im Ingenieurwesen. Dabei arbeiten die Forschenden methodenorientiert. Sie erforschen grundsätzliche Simulationsmethoden, die universell anwendbar sind.
Die Interdisziplinarität und die Bedeutung von SimTech zeigen sich unter anderem in den Verbindungen zum KI-Forschungskonsortium Cyber Valley, zum Netzwerk European Laboratory for Learning and Intelligent Systems (ELLIS) oder zum Forschungsschwerpunkt Interchange Forum for Reflecting on Intelligent Systems (IRIS) der Universität Stuttgart.